Santiago de Chile
21 01 201103. – 07.01.2010, Tag 90 – 94
Als ich morgens am Frühstückstisch sitze bin ich der letzte derjenigen, die hier den Jahreswechsel gefeiert haben, Zeit zu gehen. Ausserdem werde ich in Santiago auch erwartet. Ursprünglich hatte ich mit Amanda, die auf dieser Reise meine „chilenische Kontaktperson“ ist, vereinbart Anfang oder mitte Dezember in Santiago einzutreffen. Nachdem wir allerdings immer mehr Zeit unterwegs gebraucht haben, haben wir nun Anfang Januar ausgemacht und heute ist es soweit. Für die „Nicht-Bürgeler“ sei nochmal kurz der Zusammenhang unserer Familien erklärt: Amanda ist eine Freundin meiner Schwester, die gerade ein Jahr in Chile bei ihren Grosseltern lebt und dort ein Praktikum in einem Kindergarten absolviert hat. Ihre Mutter Pilar ist Chilenin und ihr Vater Pit ist derjenige, der mich 2009 als Ruderer reaktiviert und mit dem Verein auf die grandiose Chile-Reise genommen hat. Am Samstag trifft dann noch Amandas Bruder Valentin ein, mit dem ich auch schon seit unserer gemeinsamen Kindheit befreundet bin. Das erste mal also, dass ich auf dieser Reise jemanden aus der Heimat treffe. Zudem wird Santiago, die erste und wahrscheinlich auch einzige Station sein, die ich zum zweiten mal bereise. Etwas was ich eigentlich nicht gerne mache, denn wenn es mir irgendwo gefallen hat, wie bei dem letzten Aufenthalt in Santiago, bereise ich den Ort ungern nochmal, weil es dann immer schwierig ist das ganze nochmal zu toppen und man das Risiko eingeht sich die Erinnerung etwas zu verzerren. Ich denke mir dann immer es gibt noch so viel auf der Welt zu sehen, warum irgendwas mehrmals besuchen bevor ich alles gesehen habe. Hier mache ich davon eine Ausnahme, da die Art der beiden Reisen, 2009 und jetzt, völlig verschieden ist. Damals stand etwas mehr die super Gruppe, die wir hatten, im Vordergrund, jetzt ist es die Stadt und die Familie, die mich eingeladen hat .
Gegen eins bin ich am Busbahnhof, der immer noch die Nachwirkungen von Neujahr zu verkraften hat. Trotzdem bekomme ich noch einen Platz eine halbe Stunde später. Jetzt werden mir auch schon die Folgen des Alleine-Reisens bewusst. Konnte ich sonst zumindest meinen grossen Rucksack irgendwo bei den anderen stehen lassen, muss ich nun immer alles bei mir tragen. Die Neubaugebiete am Stadtrand von Santiago könnten glatt in Deutschland stehen. Struktur, Bauweise usw., alles identisch. Eigentlich hätte ich anrufen sollen, wenn ich ankomme, aber da Santiago über ein gut strukturiertes Metro-Netz verfügt und ich nicht will das meine Gastgeber stundenlang vor dem Telefon sitzen, mache ich mich direkt auf den Weg. In den Stadtteil „La Cisterna“ im Süden Santiagos brauche ich mit einmal umsteigen ca. 45 Min. Den Weg von der Haltestelle zum Haus habe ich mir vorher auf dem Stadtplan angeschaut: 3 Blocks runter, dann links, 5 grosse und 3 kleine Blocks – das gehe ich doch mal zu Fuss…!
Der Thermometer zeigt gute 25 Grad und die Mittagssonne brennt. Da die Gegend mit Touristen überhaupt nichts zu tun zu haben scheint, werde ich etwas skeptisch beäugt. Der Typ, der mir ein gefrorenes Wasser verkauft fragt ob ich mich verlaufen habe und erzählt mir dann stolz, dass er selbst ein „Mochilero“ sei. Ein nächster Hinweis auf die Länge der Strecke hätte die Hausnummer 1087 sein können…aber gut, was ich angefangen habe bringe ich auch zu Ende 😉 Dann endlich das Haus mit dem weissen Anstrich. Ich klingele und im Hof erscheint Amandas Grossvater, Don Hugo: „Hola Roland, como estas?“ Sie haben mich schon erwartet und sind fast entsetzt, dass ich einfach hierher gelaufen bin. Sra. Bella begrüsst mich in der Küche, die sowas wie das „Zentrum des Hauses“ darstellt, wie man mir gleich erklärt. Nach ein paar Minuten kommt Amanda mit ihrer Tante Maria Elena dazu und im Schnelldurchlauf erzähle ich die Geschehnisse der letzten Tage und die verschiedenen Stationen meiner Reise. Dann folgt etwas was ich in den nächsten Tagen sehr häufig tun werde: Essen 🙂 Danach besichtige ich die Werkstatt für Metall-Feinarbeiten (ich hoffe das habe ich richtig umschrieben?!), die sich hinter dem Haus befindet. Diese sei angeblich „gerade nicht aufgeräumt“, aber ich möchte behaupten, dass es die ordentlichste und sauberste Werkstatt ist, die ich in ganz Südamerika gesehen habe. Selbst manche Küchen waren nicht so sauber! Dann folgt ein spannender Moment: Wir wiegen meinen Rucksack. Nicht vorstellbare 25 kg und nochmal 10 kg Handgepäck. Wer meine Berichte der letzten Tage gelesen hat weiss nun warum ich bei den Märschen so platt war! Aber die „Einkaufspolitik“ der letzten Wochen zielte auch darauf ab, von hier wieder etwas nach Hause zu schicken. Diesmal allerdings mit dem Flugzeug (in Valentins Gepäck), da mein Paket aus La Paz wahrscheinlich abhanden gekommen ist… Später schlage ich dann mein Lager auf einem Feldbett im Wohnzimmer auf. Genau an dieser Stelle haben meine Eltern, als sie mit Amandas Vater und weiteren Freunden auf Ihrer Südamerika-Reise 1980 hier zu Besuch waren auch geschlafen. Bis heute schwärmen sie noch von der Gastfreundschaft und ich werde in den nächsten Tagen erfahren was sie meinen. Bevor ich ins Bett gehe, erhalte ich noch eine Einweisung für den Fall eines Erdbebens. Mir war gerade gar nicht mehr bewusst, dass ich mich in einer Risikoregion befinde, aber dazu später mehr. Also überprüfe ich ob der Weg zur Tür frei ist und wenn es losgehen sollte stelle ich mich in den Türrahmen.
Das Frühstück findet bei den Chilenen relativ spät statt, hier meist gegen 12.00 Uhr. Nun wird mir auch klar warum die chilenischen Hostels meistens bis um die Mittagszeit Frühstück anbieten. Mir kommt es auf jeden Fall entgegen. Zum Mittagessen (ich habe ja gesagt, das spielt hier eine zentrale Rolle^^) kommen Amandas Cousine Javiera und ihr Bruder Joaquin dazu, mit denen wir danach in die Innenstadt fahren. Dort treffe ich zum vorerst letzten mal Anja und Theresa mit denen wir noch einen kleinen Rundgang durch das historische Viertel, durch den Park und zum Kulturzentrum machen. Dann heisst es erstmal Abschied nehmen und mal sehen ob und wo man sich wieder sieht.
Am nächsten Morgen bekommt Amanda einen Anruf von ihrer Tante Ximena, dass es heute beim Arbeitgeber ihres Mannes eine Flugshow gibt, die wir uns anschauen könnten. Davor kommen die beiden mit ihren Töchtern Fernanda und Sofia zum Mittagessen vorbei. Während des Essens bekommt Jorge einen Anruf, das die Show abgesagt wurde. Nun bricht schon fast eine kleine Panik aus was man machen könnte, ich bekomme allerdings erst später mit um was es geht… Amanda hat mir gesagt, dass sich alle schon seit Tagen wenn nicht sogar Wochen Gedanken gemacht habe, wie sie mir den Aufenthalt in Santiago gestalten können und daher gibt es zum Glück noch genügend Möglichkeiten. Zusammen mit Javiera und Joaquin fahren wir zum Tempel im Stadtteil Maipu, wo es im Museum del Carmen eine interessante Ausstellung über die Kolonialzeit gibt. Im Auto zeigt sich dann etwas was mir des Öfteren schon bei den Chilenen aufgefallen ist: Sie singen gerne, und zwar laut und öffentlich und brauchen dafür nicht mal (wie wir Europäer) Alkohol! Also komme ich in den Genuss eines Livekonzerts im Auto 🙂 Der Tempel selbst ist ein imposantes Bauwerk mit einem riesigen Platz davor, den ein Fahrradfahrer als Radrennbahn umfunktioniert. Im Museum befindet sich u.a. eine grosse Sammlung an Pferdekutschen, die alle erstaunlich gut erhalten sind. Nach einer kurzen Pause zum Eisessen geht es weiter.
In einem Wohnviertel, ebenfalls in Maipu, machen wir halt. Ich weiss nicht was der Grund ist, laufe aber einfach mal hinterher. Als wir um die nächste Ecke kommen sehe ich dort ein Haus was etwa ein 1/4 auf die Seite gekippt ist. Wem die Geschehnisse in Chile nicht so präsent sind, möchte ich es hier nochmal kurz erläutern: Am 27.02.2010 wurde die Region um Concépcion, wo wir letztes Jahr an der Regatta teilgenommen haben, von einem Erdbeben der Stärke 8.8 heimgesucht. Neben den riesigen Zerstörungen in der Stadt, wurden durch eine von dem Beben ausgelöste Flutwelle viele Küstendörfer, von denen wir auch eins besucht hatten, fast komplett zerstört. Auch hier in Santiago, über 1000 km vom Epizentrum entfernt, wurden, wie hier, noch Schäden angerichtet. Einen wie ich finde sehr gute Dokumentation könnt ihr euch unter diesem Link anschauen: http://www.youtube.com/watch?v=fEIBeQ5M2y4
Das Haus hier war im Prinzip stabil gebaut, was man daran sieht, dass es immer noch in einem Stück ist. Nur das Fundament auf Säulen war für das Gebäude zu schwach. Für mich ein ziemlich beklemmender Moment so etwas nicht nur im Fernsehen zu sehen und nun wird mir auch klar, warum es hier so präsent ist. Dazu hat es vor wenigen Tagen im Süden wieder gebebt.
Anschliessend fahren wir nach Hause zu Ximena und Jorge und auf mich wartet mal wieder eine Überraschung: In einem Fotoalbum zeigen sie mir Bilder von einem Besuch in Deutschland, von Valentin und mir als Kindern und einer Grillfeier bei meinen Eltern im Garten. Schon witzig, da fahre ich um die halbe Welt und sehe dann Fotos von mir, die ich noch nie im Leben gesehen habe. Generell finde ich es sowieso total beeindruckend, dass hier jeder der Familie meine Familie und die anderen Familien aus dem Freundeskreis unserer Eltern mit Namen kennt, obwohl man sich wenn überhaupt nur wenige male gesehen hat. Aber wie Amanda mir erklärt sind hier auch alle etwas Deutschland besessen^^ Also versuche ich mir im Gegenzug die Namen ihrer 11 Cousins und Cousinen zu merken. Beim Abendessen lerne ich dann auch noch Jorgito, den Sohn des Hauses kenne, jetzt ist schon mal die erste Familie komplett. Danach ist aber natürlich noch nicht Schluss, sondern wir brechen auf zu einer Tour, die wir da nennen: „Santiago en la Noche!“ Wir fahren hoch in die Innenstadt, durchqueren das Zentrum und fahren bis in die nördlichen, reichen Viertel. Wirklich tolle Bilder, die sich mir unterwegs bieten und durch die Fahrt mit dem Auto bekomme ich auch einen Eindruck über die Grösse der Stadt. Auf dem Rückweg frage ich wo das Stadion ist, da ich es mir vielleicht noch anschauen möchte. Keine 10 Minuten später stehen wir vor dem Bauwerk, das zur Fussball-Weltmeisterschaft 1962 errichtet wurde und in dem bis heute alle grossen Spiele stattfinden. Zum Abschluss der Tour gibt es an einer Tankstelle nochmal einen nächtlichen Imbiss und ich bin einfach nur beeindruckt welche Mühe sich hier alle geben und wie viele Ideen entwickelt werden um mir den Aufenthalt angenehm und interessant zu gestalten. Und ich kann jetzt schon sagen, dass es zu 100 % gelungen ist!
Neuer Tag, neues Event: Wir treffen uns mit Javiera und Joaquin in der Innenstadt und besichtigen zunächst eine Ausstellung für moderne Kunst unter dem Palacio de la Moneda, dem Regierungsgebäude. Davor wurde zum 200 Geburtstag der Nation im letzten Jahr eine grosse Fahne aufgestellt, die passender Weise auch 200 kg wiegt! Anschliessend besuchen wir noch das Museo Chileno de Arte Precolombino, eines der besten Südamerikas. Vor dem Museum erwartet uns dann schon Amandas Tante Maria Elena mit ihren Töchtern Ivanna und Francisca. Wir gehen durch das Finanzviertel und jetzt steht erstmal wieder etwas typisch chilenisches an: Completos essen bei „Domino“ dem besten Laden der Stadt! Dabei handelt es sich um einen Hot-Dog, der allerdings noch mit unzähligen weiteren Zutaten versehen werden kann, so dass es später unmöglich wird alles in dem kleinen Brötchen zu behalten. Ich stelle mal die These auf, dass es Ziel des ganzen ist sich dabei an möglichst vielen Körperteilen einzusauen^^Aber egal wie, es schmeckt gut!
Anschliessend besichtigen wir die Nationalbibliothek und machen Station auf dem Cerro Santa Lucia, eine Art Park mit einer Festungsanlage auf einem Hügel, einer der schönsten Plätze der Stadt. In der Grünanlage findet man zwischen Palmen verschiedene hübsche Gebäude und Brunnen, die den kompletten Hügel säumen. Oben angekommen hat man einen schönen Rundumblick über das Stadtzentrum und auf den benachbarten Cerro St. Cristobal mit der Statue der Virgen de la Inmaculada Concepcion auf der Spitze. Der Heimweg hält auch noch eine Überraschung für mich bereit: Als wir an der Pferderennbahn vorbeikommen, kommt Maria Elena die (wirklich tolle) Idee wir könnten diese doch auch gleich besichtigen. Das das Gelände eigentlich geschlossen ist, interessiert dabei nicht und nach kurzer „Verhandlung“ mit dem Wachmann kommen wir in den Genuss einer Exklusiv-Besichtigung! Also setzen wir uns auf die schöne alte Tribüne mit Holzsitzen, stehen an der Rennbahn und testen den Blick aus der V.I.P.-Loge. Ich denke ein besseres Programm als jetzt geschildert kann man sich nicht wünschen! Zum Abschluss des Tages wird dann (obwohl ich mich dagegen wehre! ;)) nochmal gekocht und alle sitzen zusammen in der Küche, fast wie daheim!
Freitags bin ich dann zur Abwechslung alleine in Santiago unterwegs und besichtige nochmal die typischen Touristenziele rund um die Plaza de Armas. Als ich Abends meine Landkarte auf dem Küchentisch ausbreite, bemerke ich wie Don Hugo an einem anderen Tisch herumräumt und eine Leselampe festschraubt. Ich denke mir nichts dabei, aber als er fertig ist besteht er darauf, dass ich dorthin „umziehe“ weil das Licht besser ist und dazu seine Lupe benutze. Alle „Gegenwehr“ hat keine Sinn und keine 5 Minuten später setzt er sich zu mir und versorgt mich mit Informationen und interessanten Tipps zu den Teilen des Landes die ich noch bereisen werde. Dies nochmal als kleiner Exkurs zum Thema Gastfreundschaft, die in diesen Tagen für mich nochmal eine ganz neue Bedeutung bekommen hat! Und mir bleiben noch ein paar Tage in Santiago de Chile…Fortsetzung folgt!